Wir Flüchtlinge haben mit der Heimat vieles, mitunter alles verloren, was uns teuer war; nur eins ist geblieben – die Erinnerung, ein Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können. Diese Erinnerung soll nicht mit unserer Generation sterben, – wir sind verpflichtet, sie an die uns Nachkommenden in Wort und Schrift und Bild weiterzugeben, dass sie Kraft gewinnt, das Geschehen, die Geschichte in ihnen lebendig zu erhalten. Das will der Teppich „Schicksalsweg der Familie Koller“.

Dieses Gewebe entstand 1946 in Ostfriesland nach der Flucht aus Ostpreußen, als wir Flüchtlinge nur das besaßen, was wir auf dem Leibe trugen, als wir zusammengepfercht in Baracken wohnten, als wir bettelnd von Bauernhaus gingen, um die Kartoffeln für ein Mittagessen zusammenzuholen. In dieser großen Notzeit entstand der Wunsch, das wechselvolle Geschick der Familie in einem Teppich festzuhalten, ein Plan, dem nach menschlichem Ermessen jede Voraussetzung fehlte: kein Gerät, kein Raum, kein Garn – man konnte nicht einmal einen Faden zum Stopfen der Strümpfe auftreiben – aber ich habe immer in meinem Leben erfahren, wenn man sich etwas mit ganzem Willen, mit heißem Herzen, mit allen Fasern seines Seins ersehnt, dann findet Gott Wege und Hände, die das Unmögliche möglich werden lassen. Die Fürstin zu Inn- und Knyphausen beschaffte einen Webstuhl. Frau Klein in Bielefeld sorgte für das Garn, als ich ihr meinen Wunschtraum verzeichnete und Frau Stübel in Hage stellte den Raum zur Verfügung. Mir war klar, dass auch diese Zimmer bei dem erneuten Zustrom der Flüchtlinge aus Schlesien bald beschlagnahmt würde und so geschah´s.

Der Teppich war angefangen und schon wurde eine 5-köpfige Familie eingewiesen. Wenige Tage blieben mir nur für eine Arbeit, die unter normalen Verhältnissen ein Vielfaches der Zeit beansprucht hätte. Während der Maler die Schäden an Mauern und Fenstern ausbesserte, die Wände und Decken tünchte, webte ich Tag und Nacht und wurde bei der Arbeit von einer Ecke in die andere geschoben. Was machten schon ein paar Kalkspritzer aus – der Teppich musste werden – und er wurde fertig. Aber wie! Bei der mangelhaften Ernährung fehlte mir die Kraft, den Faden so fest anzuschlagen, dass Kette und Schuß im Quardrat standen, dazu der unregelmäßig gemusterte Rand, der in der Hetz nicht sorgfältig durchgearbeitet werden konnte.

In Gedanken jener hastigen, unruhigen, qualvollen Tage rege ich mich heute noch auf, Tage, die bei der Arbeit zu Hause in der Heimat so viel Glück schenkten, wenn man besinnlich die musternden hellen Fadenpaare auf den Stab sammelt, ihnen über den dunklen Schuß hinweghilft und sie vor der Finsternis bewahrt. Sie müssen artig auf die nächsten hellen Schüsse warten, die sie binden und als Muster auf dem Gewebe in Erscheinung treten lassen.

Das wenig edle Material, die Fehler in der Randborte, das in die Länge gezogene Muster mindern beim unbeteiligten Beschauer den Wert des Gewebes, aber dem Kundigen berichten diese Mängel von der durchgestandenen Not.

Den Teppich sollte eine überlieferte Randborte, wie sie alle unsere alten Doppelgewebe einrahmt. Auf und ab bewegt sich die Lebenslinie. Aus den zwei Schenkeln, den Entzweiten – die Einheit ging bei der Schöpfung des Geschlechts entzwei – entspringt das neue Leben,(1) das Dritte; es dreht sich in seiner Blütenform nach links und nach rechts, die beiden Auseinandergefallenen verbindend. Die Einheit, die Dreieinigkeit, ist wieder hergestellt. (2) Auch die nächste kleine Borte entstammt den alten Teppichen. (3) Dieses Zeichen findet man nicht nur in Doppelgeweben, sondern auch in den ostpreußischen Knüpfteppichen. Als Einzelornament neben den Lebensbaum gestellt will es uns etwas sagen, aber wer kann es deuten? Es ist ein Jammer, dass sich unsere Wissenschaftler noch so wenig mit der Bildsprache in der Volkskunst beschäftigt haben.

Foto des Schicksalsteppichs mit Zahlenmarkierungen

Im Mittelfels weist die untere Gemsenreihe, das Haus mit dem steinbeschwerten Dach, die Glocke auf den First auf das Ursprungsland Salzburg der Familie Koller hin. (4) 1732 verließen mehrere Familienmitglieder des Glaubens wegen die angestammte Heimat Salzburg.(5) Mit Pferd und Wagen, geleitet von einem Vögelchen, (6) das die mitziehenden Segenswünsche andeutet, begann der mühevolle Treck nach Ostpreußen, wo Friedrich Wilhelm 1 den Heimatlosen in dem durch die Pest entvölkertem Land eine neue Wohnstatt gab. Die Menschen hatte die Pest dahingerafft, den Ordensbauten konnte die Seuche nichts anhaben. Sie standen und stehen noch und sind Wahrzeichen bis in die heutige Zeit. (7) Über den Ordensrittern und links und rechts von ihnen stehen 6 Lebensbäume,(8) die jeweils dem Namen der letzten in Ostpreußen geborenen Generation entspringen. Inge und Ursula Adam fanden auf der Flucht den Tod. (9) Ein Kreuz in der Randborte weist auf das tragische Geschick hin. (10) Oben im Teppich ist die Vertreibung aus Ostpreußen dargestellt. Kein Vögelchen begleitet den Treck (11), nur wenige Menschen bleiben in der Heimat zurück, sie klammern sich vergeblich an den alten Lebensraum, den Lebensbaum, die Säge ist angesetzt. (12)

Ostpreußen und Ostfriesland haben nicht nur die erste Silbe gemein, sie weisen auch sonst verwandte Züge auf: Dort die brennende politische Grenze, hier der Kampf gegen die Angriffe des Meeres, stur und verbissen das einmal gesteckte Ziel verfolgend der Ostpreuße, ebenso wortkarg und ausdauernd der Ostfriese beim Deichbau, bei der Entwässerung des Landes. Würde das Geschlecht der Koller hier zu Ruhe kommen, sesshaft werden? War ich berechtigt ein Symbol für diese Landschaft in den Teppich hineinzusetzen? Ich wagte es nicht, und das war richtig; denn ein Bruder zog von hier nach Oldenburg, der andere nach Bremen, Neffen und Nichten leben verstreut in Niedersachsen.

Vielleicht findet sich nach Hunderten von Jahren wieder ein Wesen, das die Geschichte der Familie weiterschreibt mit dem Faden. Dann müssten auch wieder viele Sterne hineingewebt werden, denn unser wechselvolles Geschick spielt sich hier wie dort unter dem gleichen Gestirn ab, ist von Gott gewollt und wird von seiner Hand gelenkt.

Erna Koller

Portätfoto der Autorin Erna Koller
Zeitungsausschnitt Ostpreußenblatt 04. Januar 1964

Wunderbar verwebt, der uns erschuf,
in den bunten Teppich unseres Lebens
lichten Traum und dunkle Wirklichkeit.
Und wir wissen erst beim letzten Ruf:
Keinen dieser Fäden wob vergebens
Seine Hand in diese bunten Streifen,
die gemach enträtselnd wir begreifen
erst im Lichte Seiner Ewigkeiten.
Agnes Miegel
(zitiert von Erna Koller)

Handgeschriebenes Zitat von Agnes Miegel

8:             Pro Lebensbaum ein Initial: Horst, Klaus, Helga, Kurt, Ursula und Inge
9:            Ursula und Inge ertranken auf der Steuben
13:          Sechsstern: Zeichen für stets willkommene Einkehr ( Gasthäusern)